„Stealthing“: Strafbarkeit des heimlichen Abstreifens oder Weglassens eines Kondoms beim Geschlechtsverkehr
Das sogenannte „Stealthing“ (aus dem englischen „stealth“, für „List“ oder „Heimlichkeit“) wirft im Sexualstrafrecht einige strafrechtliche Fragen auf. Die Abgrenzung von sexuellem Übergriff, sexueller Nötigung und Vergewaltigung kann dabei im Einzelfall Schwierigkeiten bereiten, vor allem wenn in den Geschlechtsverkehr mit Kondom grundsätzlich eingewilligt wurde.
Im Jahr 2023 äußerte sich erstmals der Bundesgerichtshof zum Stealthing. Es handelt sich mindestens um einen strafbaren sexuellen Übergriff gemäß § 177 Abs. 1 StGB, auch eine Vergewaltigung sei nicht ausgeschlossen, so das höchste deutsche Strafgericht.
Was fällt unter Stealthing?
Stealthing ist eine Praxis, bei der ein Partner während des Geschlechtsverkehrs das Kondom entfernt, ohne die Zustimmung des anderen Partners einzuholen. Dies geschieht ohne das Wissen des Partners, der auf den Schutz durch das Kondom vertraut. Was also zunächst als Akt der Täuschung erscheinen mag, hat weitreichende Auswirkungen auf die sexuelle Selbbestimmung des betroffenen Partners.
Auch wenn das Kondom verwendet wird, aber noch vor dem ersten Eindringen ohne Zustimmung entfernt wird, die Verwendung also nur vorgetäuscht wird, liegt ein Fall des Stealthing vor. Gleiches gilt, wenn ein Partner nur den Eindruck erweckt ein Kondom zu verwenden.
In Frage kommt auch die Manipulation eines benutzten Kondoms, beispielsweise durch das Hineinstechen von Löchern, um die Schutzwirkung zu verringern oder ganz aufzuheben.
Auch sind Fälle umfasst, in denen das Kondom absichtlich derart falsch verwendet wird, dass es beim Geschlechtsverkehr abrutscht, reißt oder auf sonstige Weise seine Schutzwirkung verliert. Es ist zu beachten, dass versehentliches Abrutschen oder Ähnliches in diesen Fällen nicht umfasst sind.
Juristische Beurteilung: Unterschied zwischen sexuellem Übergriff, sexueller Nötigung und Vergewaltigung
Der vergleichsweise umfangreiche und komplizierte § 177 StGB beinhaltet verschiedene, aufeinander aufbauende Straftatbestände. Um zu prüfen, inwieweit das Stealthing darunter fallen kann, muss zuerst einmal geschaut werden, welche Handlungen der § 177 StGB unter Strafe stellt.
Der sexuelle Übergriff (§ 177 Abs. 1 StGB)
Der Absatz 1 des § 177 StGB beginnt mit dem sog. sexuellen Übergriff, welcher die niedrigsten Anforderungen an eine Strafbarkeit stellt. Dieser umfasst Fälle, in denen der Täter gegen den erkennbaren Willen des Opfers sexuelle Handlungen vornimmt. Gewalt oder Drohung sind nicht nötig, es gilt der Grundsatz „nein heißt nein“.
Im Regelfall ist beim Stealthing nach dem Bundesgerichtshof folglich von einem sexuellen Übergriff auszugehen, wenn der Partner nur in den Geschlechtsverkehr mit Kondom eingewilligt hat, beziehungsweise. keine Einwilligung für ungeschützten Geschlechtsverkehr ersichtlich ist.
Sexuelle Ausnutzung „sonstiger Umstände“ (§ 177 Abs. 2 StGB)
Der § 177 Abs. 2 StGB behandelt die sexuelle Ausnutzung „sonstiger Umstände“. Besonders unter Strafe gestellt wird das Ausnutzen des Täters solcher Situationen, in denen das Opfer nicht in der Lage ist, sich selbst einen entgegenstehenden Willen bilden zu können. Praktisch hat dies vor allem bei Alkohol- und Betäubungsmittelkonsum eine hohe Relevanz. § 177 Abs. 2 StGB ist ebenfalls einschlägig, wenn der Täter eine Lage ausnutzt, in der dem Opfer bei Widerstand ein empfindliches Übel droht.
Es kommt aber immer genau auf den Einzelfall an: Oft kann eine Strafbarkeit vermieden werden, wenn das Opfer mutmaßlich eingewilligt hat. In Frage kommt dies zum Beispiel in Partnerschaften oder wenn vermeintliches Opfer und Täter bereits in der Vergangenheit Kontakte sexueller Natur pflegten.
Sexuelle Nötigung (§ 177 Abs. 5 StGB)
Die sexuelle Nötigung nach § 177 Abs. 5 StGB ist erfüllt, wenn zusätzlich zum Übergriff oder dem Ausnutzen sonstiger Umstände noch weitere Voraussetzungen vorliegen. Diese sind zum Beispiel Gewaltanwendung, Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben oder das Ausnutzen einer Lage, in denen das Opfer dem Täter schutzlos ausgeliefert ist, wie zum Beispiel in verschlossenen Räumen.
Vergewaltigung (§ 177 Abs. 6 StGB)
Die Vergewaltigung ist eine der schwerwiegendsten Formen des sexuellen Übergriffs und bezieht sich auf den erzwungenen Geschlechtsverkehr oder gleichgestellte sexuelle Handlungen, wie zum Beispiel Oral- oder Analverkehr. Auch das Eindringen mit einem Gegenstand ist umfasst.
Eine Vergewaltigung nach § 177 Abs. 6 StGB liegt somit in der Regel vor, wenn der Täter eine der vorgenannten Handlungen unternimmt und dabei den Geschlechtsverkehr oder eine ähnliche sexuelle Handlung durchführt. Hauptunterschied zwischen sexuellem Übergriff und einer Vergewaltigung liegt somit darin, ob es zum Geschlechtsverkehr oder eine ähnliche sexuelle Handlung kam.
„In der Strafverteidigung bei Stealthing-Fällen ist es von zentraler Bedeutung, die Umstände der möglichen Zustimmung genau zu prüfen und in der Verteidigung herauszustellen.“
Rechtsanwältin Alina Niedergassel
Anwendung auf Stealthing: Problem der Einwilligung
Beim Stealthing stellt sich nun vor allem das Problem, inwiefern und unter welchen Umständen in den Geschlechtsverkehr eingewilligt wurde.
Der BGH stellte in seinem Beschluss vom 04.12.2018, 1 StR 546/18 fest, dass einvernehmlicher Sexualkontakt kein umfassendes Einverständnis in jegliche Praktiken beinhaltet. Es kommt demnach immer auf das Einverständnis in die konkret vorgenommene sexuelle Handlung an.
Die maßgebliche Frage ist daher, ob der Geschlechtsverkehr mit und ohne Kondome eine unterschiedliche Handlung sind. Dies bejaht der Bundesgerichtshof. Demnach beinhaltet die Einwilligung in Geschlechtsverkehr mit Kondom nicht auch die Einwilligung in den Geschlechtsverkehr ohne Kondom.
Dies liegt laut Bundesgerichtshof daran, dass der geschützte Geschlechtsverkehr und der ungeschützte Geschlechtsverkehr aufgrund der unterschiedlichen Risiken (wie Infektionen oder Schwangerschaft) als qualitativ verschiedene Arten des Sexualverkehrs angesehen werden.
Das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung beinhaltet demnach auch die Entscheidung darüber, unter welchen Bedingungen Geschlechtsverkehr stattfinden soll. Wird nun ein Kondom entfernt oder entgegen der Vorstellung eines Partners durch Täuschung gar nicht erst verwendet, ist dieses nicht vom Einverständnis in den Geschlechtsverkehr gedeckt und eine Strafbarkeit wegen eines sexuellen Übergriffs oder einer Vergewaltigung sind denkbar.
Der Einzelfall zählt – Frühe rechtliche Beratung kann den Unterschied machen
Bei der Beurteilung der Strafbarkeit kommt es immer auf den Einzelfall an. Nicht nur die Art des Nichtgebrauchs des Kondoms ist maßgeblich, sondern auch die dazugehörigen Begleitumstände.
Falls Sie Beschuldigter eines Verfahrens wegen Stealthing sind, zögern Sie nicht und setzen Sie sich frühestmöglich mit uns in Verbindung. Gerade im Bereich des Sexualstrafrechts ist ein frühes Agieren wichtig, um die relevanten Weichen bereits frühzeitig zu stellen und das Strafverfahren bereits im Ermittlungsverfahren zur Einstellung zu bringen.
Vereinbaren Sie gerne ein unverbindliches und kostenfreies Erstgespräch mit einem unserer erfahrenen Rechtsanwälte. Nehmen Sie gerne Kontakt mit uns auf – per Telefon, E-Mail oder über das Kontaktformular.
Dieser Beitrag ist unter Mitwirkung unseres Rechtspraktikanten Max Alberg entstanden.
„Bei der Verteidigung gegen Vorwürfe des Stealthings muss berücksichtigt werden, dass Missverständnisse in intimen Momenten vorkommen können, ohne dass eine strafbare Absicht vorlieg.“
Rechtsanwalt und Fachanwalt für Strafrecht Dr. Mathias Schult